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Die KV-Misere in der Sozialwirtschaft, die österreichischen Gewerkschaften und wie weiter

Die Gewerkschaften GPAdjp und vida haben mitten in der Corona-Krise einen mauen Deal mit den Arbeitgeber_innen gemacht und den Kollektivvertrag der Sozialwirtschaft Österreich abgeschlossen. Die Streikbewegung für die 35-Stunden Woche, die weit über ihre Branche hinaus strahlte wird durch eine dreijährige Laufzeit des KV massiv eingeschränkt.
Vier Genoss_innen haben die Geschichte der Bewegung und den Abschluss Revue passieren lassen und sich Gedanken über die Gründe für diesen Abschluss gemacht: Patriarchat, Kapitalismus und die Sozialpartnerschaftliche Gewerkschaft. Und darüber, was wir als kämpferische Kolleg_innen im Sozialbereich jetzt tun sollten.


Eine Einschätzung – 2. April 2020

Am Morgen des 1. Aprils wurde der Abschluss des Kollektivvertrags im privaten Sozial- und Pflegebereich, der Sozialwirtschaft Österreich (SWÖ), verkündet. Dieser Kollektivvertrag gilt für rund 125.000 Beschäftigte.

Der Abschluss des Kollektivvertrags – Verkündung
Die am Verhandlungstisch gesessenen Verhandler_innen der Gewerkschaften GPAdjp und vida versuchen das Ergebnis als großen Erfolg, ja gar als historischen Moment, zu verkaufen. Mindestens genauso glücklich mit dem Ergebnis gibt sich die Arbeitgeber_innenseite.

In den sozialen Medien hingegen brodelt es: „Verrat“, „Gewerkschaft fällt um“, „miserabler Abschluss“, heißt es da.

Sozialbereich: Eine Streikbewegung von unten
Seit Jänner ist rund um die Kollektivvertragsverhandlungen im SWÖ eine beachtliche Bewegung entstanden. In vielen Betrieben wurde gestreikt, in einigen sogar an mehreren Tagen. Die Streikbewegung hatte ihre Vorläufer um die KV-Verhandlungen der letzten beiden Jahre: Während die Warnstreiks 2018 noch von der albernen Suggestiv-Frage „Kann im Sozial- und Pflegebereich überhaupt gestreikt werden?“ medial begleitet wurde, stellte diese 2020 niemand mehr.

Die zentrale Forderung ist: Eine Arbeitszeitverkürzung auf 35 Wochenstunden. Sowohl im SWÖ-KV als auch in den kleineren Schwester-Kollektivverträgen von Caritas und Diakonie wurde dies von den Gewerkschaften GPA-djp und vida als einzige Forderung in die Verhandlungen getragen.
Derzeit gelten in dem Bereich 38-Stunden als Vollzeit. Über 70 % der Kolleg_innen arbeiten weniger als 35 Stunden und wie in der bezahlten Sorgearbeit üblich sind der Großteil der Beschäftigten Frauen. Die Gehälter liegen 17-18% unter dem österreichischen Durchschnitt.
Die Motivation für die Kämpfe um die Arbeitszeitverkürzung liegt nicht nur im Gewinn zusätzlicher Lebenszeit, sondern vor allem in der Lohnerhöhung, die durch eine „kurze Vollzeit“ entstanden wäre – eine Arbeitszeitverkürzung um 3 Stunden würde für die Teilzeit-Mehrheit ein Lohnplus von 8,6 % bringen. Bis zum Näherrücken der Corona-Pandemie hatte die Bewegung eine breite und wohlgesonnene Öffentlichkeit in den Medien.

Im SWÖ werden die Verhandlungen von den Gewerkschaften GPAdjp und vida geführt, Beschlüsse in einem Kreis ausgewählter Betriebsrät_innen abgestimmt – wer zu diesem Kreis gehört richtet sich zwar irgendwie auch nach Organisierungsgrad und Größe der Betriebe, ist aber weitgehend undurchsichtig. Die Streiks hingegen wurden vor allem von unten, auf Betriebsebene organisiert. Die Streikbewegung umfasste zwar nur eine Minderheit der Betriebe in der Branche, jedoch war eine von Streiktag zu Streiktag eine Ausweitung zu beobachten. Die für 10.3. angesetzte Demonstration fiel schließlich dem neu erlassenen Versammlungsverbot der Regierung anlässlich der Ausbreitung von Covid-19 zum Opfer.

Der Abschluss – Was ist da eigentlich passiert?
Mit den weiteren Maßnahmen der Regierung wurde auch die KV-Verhandlung Ende März ausgesetzt, die Verschiebung aufrechter Streikbeschlüsse folgte. Angekündigt wurde ein Aussetzen bis nach Ende der Corona-Krise.
Umso überraschender die Nachricht vom 29.03.: Auf Initiative der Verhandlungsspitze würde das Verhandlungsteam im SWÖ über ein Angebot der Arbeitgeber_innen per Email abstimmen. Am 01.04. dann das Ergebnis:
⁃ ein Dreijahresabschluss mit Erhöhungen von 2,7% für 2020
⁃ nächstes Jahr eine Erhöhung um die Anpassung an den Verbraucherpreisindex (VPI) + 0,6%.
⁃ 2022 dann eine Arbeitszeitverkürzung auf 37 Stunden, ohne Inflationsabgeltung oder Lohnerhöhung.
⁃ Als eine Form der Gegenfinanzierung wird der Mehrarbeitszuschlag von 50% auf 33% gekürzt.

Für die meisten Beschäftigten ist dieser Abschluss und das Vorgehen der Gewerkschaften eine große Enttäuschung und nicht nachvollziehbar. Die Frage, für was es Gewerkschaften denn überhaupt braucht, wenn nicht um die gemeinsamen Interessen der Arbeitnehmer_innen durchzusetzen, liegt einmal mehr offen auf dem Tisch.

Gewerkschaften im Kapitalismus
Gewerkschaften braucht es dort, wo Profitwachstum das Ziel ist: Im Kapitalismus. Da gilt das eiserne Gesetz: Je billiger Arbeit zu haben ist, desto besser. Am deutlichsten wird das in der Sorgearbeit, die notwendig ist, um zu überleben: Der allergrößte Teil der Arbeit zur (Wieder)herstellung der arbeitenden Bevölkerung, von der Geburt bis zur Altenpflege, findet im „Privaten“, in den Haushalten statt, und wird gar nicht bezahlt. Das ist in Österreich mehr als die Hälfte der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, sie wird zum allergrößten Teil auf Frauen abgewälzt.

Aber auch in bezahlten Bereichen geht es regelmäßig so weit, dass Arbeiter_innen von ihrem Einkommen nicht mehr leben können oder dabei langfristig so ausgenutzt werden, dass sie krank und kaputt werden. Die einzige Form, sich innerhalb dieses Systems dagegen zu wehren, wurde bald gefunden: Zusammentun! Wenn du dich als einzelne Arbeiter_in über die Bedingungen beschwerst, kannst du wenig verändern – der Chef sitzt am längeren Hebel und kann dich ersetzen. Aber gemeinsam mit anderen, bist du stark. Die Bildung von Gewerkschaften ist ein Ergebnis dieser Erfahrung. Im Arbeitskampf gibt es viele Mittel. Das stärkste ist der Streik: Allein kann der Chef die Arbeit nicht machen, nichts setzt ihn daher so unter Druck wie die kollektive Arbeitsverweigerung.
Klassische Gewerkschaftsarbeit setzt daher auch auf diese Mittel: Die Organisierung von Kolleg_innen in Betrieben und Branchen wird unterstützt, Forderungen gefunden, Kampagnen geplant, Druck aufgebaut, notfalls gestreikt und dann kollektive Vereinbarungen gemacht.

Gewerkschaften in Österreich
In Österreich hingegen ist das zentrale Prinzip der Gewerkschaften die „Sozialpartnerschaft“. Die ÖGB-Gewerkschaften, wurden nach dem 2.Weltkrieg zentral gegründet und setzten seit Anfang auf dieses Prinzip. „Sozialpartnerschaft“ heißt: Die Arbeitsbedingungen, werden durch Kollektivverträge branchenweise geregelt und zwischen Arbeitgeber_innen und Arbeitnehmer_innenvertretungen „partnerschaftlich“ ausgehandelt. Dabei ist doch eigentlich klar: Zwischen Arbeitgeber_innen („Arbeitskräfte, nur solange sie gebraucht werden und möglichst billig“) und Arbeitnehmer_innen („Gutes, abgesichertes Leben“) gibt es einen klaren Interessensgegensatz. Da kann es keine Partnerschaft geben.

Die Macht der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaft
Auch die „Sozialpartnerschaft“ ist also – ob es ihre Vertreter_innen wissen oder nicht – keine Partnerschaft, sondern ein Machtkampf. Wenn diese ungleichen Partner an einen Tisch kommen, bringen die einen alles mit, was in dieser Gesellschaft zählt: Geld, Produktionsmittel und Arbeitsplätze auf die Menschen angewiesen sind. 
Die Gewerkschaften, die im Sinne der Partnerschaft auf die Durchsetzung ihrer Interessen im offenen Arbeitskampf verzichten, haben nur noch eine Sache anzubieten, an der die Gegenseite interessiert ist: Die Befriedung ihrer Beschäftigten. Die Arbeitgeber_innen haben vor wenig mehr Angst, als vor Arbeitskämpfen in ihren Betrieben. Wenn die Gewerkschaften unterstützend dafür sorgen, dass die Beschäftigten auf keine dummen Ideen kommen, haben sie in den Verhandlungen den Arbeitgeber_innen etwas anzubieten. Das ist der Gehalt der Macht, die eine sozialpartnerschaftliche Gewerkschaft an den Tisch bringt: Das Versprechen, Arbeitskämpfe zu verhindern. Das ist das Versprechen, das in die Waagschale geworfen wird, wenn eine Gewerkschaft des ÖGB einen Kollektivvertrag abschließt.

Sie haben es wieder getan: Nach 3 Jahren sich radikalisierender Arbeitskämpfe um die Kollektivverträge im Sozialbereich haben sie mit dem Dreijahresabschluss den Arbeitgeber_innen versprochen, was diese wollten: Dass das bis 2022 nicht mehr passieren wird – und ihnen damit per E-Mail eine Stunde Arbeitszeitverkürzung und moderate Gehaltsabschlüsse für 2020 und 2021 abgekauft.
Inhalt und Zeitpunkt sprechen Bände darüber, dass die Gewerkschaft selbst Angst vor von ihnen nicht mehr kontrollierbaren Dynamiken der Streikbewegung hatte: Sie haben den Deal, den sie am 2.3. nicht gewagt haben, ein knappes Monat später unterschrieben. Und damit einen Moment genutzt, in dem das Versammlungsrecht ausgesetzt ist und ihre Mitglieder sich entweder knapp vorm Corona-Burnout, in Kurzarbeit oder im Home-Office befinden. Nun werden aus dem Home-Office der Sekretär_innen per Mail Beschwerden beschwichtigt.

Was bleibt?
1) Wir müssen gemeinsam mit der Enttäuschung umgehen
Die drängendste Aufgabe für uns als Beschäftigte, ist nun der Umgang mit der Enttäuschung. Wir haben einen Kampf geführt, dessen Erfolge in keinem Verhältnis zum Aufwand stehen. Enttäuschung und Wut sind angebrachte Gefühle. Aus Enttäuschung und Wut können aber sehr unterschiedliche Schlüsse gezogen werden: Wenn wir jetzt denken: „Kämpfen bringt nichts“, ist das fatal. Es könnte uns auf lange Zeit lähmen und birgt besondere Gefahren, da mit der beginnenden ökonomischen Krise auch Abwehrkämpfe geführt werden müssen. Führen wir die Diskussion über die gemachten Erfahrungen so breit und offen wie möglich.

2) Schließen wir an erreichte Organisierung an
Das Niveau an Selbstorganisation, dass in der Streikbewegung erreicht wurde ist beachtlich. Die Kämpfe hat nicht die Gewerkschaft organisiert. In jedem Betrieb, in dem gestreikt wurde, wurden konnten sich Kolleg_innen beteiligen und wurden Strukturen geschaffen – formell, etwa in Form von Streikkomitees oder informell in den Teams und Belegschaften. Diese Strukturen müssen jetzt – so dringend wie nie – gefestigt werden, um für die nächsten Kämpfe bereit zu sein.

3) Finden wir neue Kampffelder
Die nächsten KV-Verhandlungen im SWÖ sind 2022. Wir dürfen diese von Arbeitgeber_innen und Gewerkschaft gewollte „Friedenspflicht“ nicht einhalten. Wir können uns für betriebliche und überbetrieblich koordinierte Kämpfe zusammenfinden und müssen nach Feldern suchen, in denen wir die gewonnenen Erfahrungen nutzbar machen können.

4) Die Perspektive bleibt revolutionär
Solange wir in diesem System feststecken, werden Arbeitskämpfe mühsam und dauerhaft sein. Wir kämpfen nicht um des Kämpfens Willen. Die Bedingungen, unter denen wir leiden haben Namen: Patriarchat und Kapitalismus. Wir müssen begreifen, dass diese Gesellschaft nur funktioniert, weil wir die Arbeit machen. Wir haben damit auch die Macht, sie zu verändern. Kämpfen wir auch jenseits von Verbesserungen unserer konkreten Arbeitsbedingungen für eine Gesellschaft, in der wir für unser aller Bedürfnisse arbeiten.